Ellen Thiemann (Foto:privat)
“Der Tod von Ellen Thiemann ist ein großer Verlust, als bedeutsame Zeitzeugin wird sie uns bei der Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur und deren Verbrechen, in Zukunft sehr fehlen.”, teilte das Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V. am Sonntag mit.
Die Leipziger Einrichtung, entstanden als Folge der Friedlichen Revolution 1989, wolle “mit der Übernahme des Nachlasses und des umfangreichen Forschungsarchives das Vermächtnis von Frau Thiemann, das man über diese Verbrechen niemals schweigen dürfe, fortsetzen und den wichtigen Nachlass für die weitere wissenschaftliche Forschung zur Verfügung stellen.”
Im Jahr 1957 zog die Familie Dietrich nach Ostberlin. Der Zwillingsbruder von Ellen Thiemann, nutzte die Gelegenheit und setzte sich nach Westdeutschland ab, um dort ein Leben in Freiheit zu führen, woraufhin der Vater große Schwierigkeiten in der DDR bekam.
Ellen Thiemann arbeitete bei der DEWAG-Werbung in Ostberlin, einer Staatsagentur.
1972 wollte das Ehepaar Thiemann mit dem elfjährigen Sohn mit Unterstützung einer Fluchthelferorganisation per Auto in den Westen mit gefälschten Pässen flüchten. Die fehlende Rede- und Reisefreiheit, die Propagandalügen der SED, das alles wollte Ellen Thiemann nicht mehr hinnehmen. Am 29. Dezember 1972 stieg der Sohn in Ostberlin in das Auto des Fluchthelfers. Die Mutter sollte einen Tag später nachgeholt werden, der Vater zwei Wochen später. Ellen Thiemann musste einige hundert Meter entfernt mitansehen, wie das Auto, worin ihr Sohn versteckt war, nach offensichtlichem Verrat, am Grenzübergang Berlin-Invalidenstraße von den DDR-Grenzern sofort umstellt und durchsucht und ihr Sohn sowie der Fluchthelfer mitgenommen wurden. Die Erinnerung an diese Szenen, taten ihr zeitlebens “körperlich weh“. Ihr Mann und sie wurden noch am selben Tag zur Vernehmung in das Polizeirevier Keibelstraße in Ostberlin gebracht. Dort nahm Ellen Thiemann den Fluchtversuch, wie vorher verabredet, ganz allein auf sich, damit der Sohn nach der Inhaftierung der Mutter, beim Vater bleiben konnte. Während ihr Ehemann nach einem Tag entlassen wurde, folgten für Ellen Thiemann fast zweieinhalb Jahre Freiheitsentzug, zuerst im Stasi-Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen, dann im DDR-Frauengefängnis Hoheneck. Diese Zeit war geprägt von „vielen schlimmen Erniedrigungen und Erfahrungen“, wie sie dem Autor im Jahr 2017 berichtete:
„Nach der Einlieferung in den Knast brach ich erstmal völlig zusammen, hatte tagelang Weinkrämpfe. Den Schlafentzug und die Psychopharmaka, die Drohungen mein Kind sehr lange nicht wiederzusehen und die langen Verhöre waren die reinste Folter. Das Gefängnis Hoheneck, wohin ich nach sieben Monaten kam, war die absolute Hölle. Im Winter war es grausam kalt, es gab kein warmes Wasser. Wir, die politischen Häftlinge, sassen dort zusammen mit Mörderinnen, Kriminellen und auch einigen Täterinnen aus der Nazi-Diktatur. Teilweise waren 42 Frauen in einem Raum mit Dreistock-Betten, zusammengepfercht. Die hygienischen Bedingungen und das Essen waren katastrophal, sowie auch die medizinische Betreuung.“ Im Dreischichtsystem musste sie Elektromotoren für Waschmaschinen zusammenlöten, die dann im Westen für Dumpingpreise verkauft wurden. Zudem musste sie Doppelschichten ableisten und Wandteppiche per Hand knüpfen, die auch politische Motive trugen.
Nach ihrer Entlassung im Mai 1975 erfolgte der nächste Schock für die bis zuletzt couragierte Frau.
Ihr Ehemann lebte inzwischen mit einer neuen Frau zusammen, ohne ihr dies während ihrer Haftzeit mitgeteilt zu haben. 1973 hatte sich Klaus Thiemann auch als Inoffizieller Mitarbeiter bei der Stasi verpflichtet und bis zum Mauerfall über zahlreiche Menschen Informationen an die DDR-Geheimpolizei geliefert. Nach vollzogener Scheidung konnte Ellen Thiemann gemeinsam mit ihrem Sohn am 19. Dezember 1975 aus der DDR ausreisen.
Ab 1978 arbeitete sie bis zur Pensionierung als Redakteurin und spätere Ressortleiterin „Frau“ beim „Kölner Express“. Im Jahr 1984 wurde ihr beeindruckendes Buch „Stell dich mit den Schergen gut“ veröffentlicht, in dem sie über ihre Zeit als politischer Häftling im DDR-Knast Hoheneck ausführlich berichtete. So erfuhr auch die interessierte Öffentlichkeit im Westen aus erster Hand von den unmenschlichen Praktiken des SED-Regimes. Das Buch wurde damals in über 120 Zeitungen rezensiert.
Immer wieder hat Ellen Thiemann als Journalistin auch zahlreiche Artikelserien in der Zeitung zum Thema DDR geschrieben, zum Beispiel den Zwangsadoptionen. Als Reporterin traf sie unter anderem Hans-Dietrich Genscher, Richard von Weizsäcker, Stefan Heym, Olga Havlová, die Frau des früheren tschechischen Präsidenten Vaclav Havel. Sie besuchte gemeinsam mit Helmut Kohl und Klaus Kinkel das Zuchthaus Bautzen. Besonders unangenehm in Erinnerung geblieben war ihr als Berichterstatterin der Prozess gegen den einst 32 Jahre amtierenden DDR-Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke vor dem Landgericht Berlin im Jahr 1993. Mielke wurde wegen seiner Beteiligung am Doppelmord zweier Berliner Polizisten im Jahr 1931, zu sechs Jahren Haft verurteilt. Im Gerichtsgebäude wurde Ellen Thiemann von Mielke-Schergen massiv verbal bedroht. Sowie auch in den Folgejahren immer wieder.
Kritisch merkte sie mehrfach an, dass „die bundesdeutsche Justiz von Anfang an viel zu lasch mit den DDR-Tätern umgegangen“ sei. 24 Anzeigen hatte sie nach 1990 gegen Verantwortliche in der DDR gestellt, wie sie 2017 erklärte: „Doch nur in einem einzigen Fall kam es zu einer Verurteilung. Dabei handelte es sich um die DDR-Staatsanwältin Christa Roehl, die 1989 auch den erheblich verletzten Christian Gaudian, Freund des letzten Mauertoten Chris Gueffroy angeklagt hatte.“
Erst vor Monaten erhielt sie von der Stasiunterlagenbehörde in Berlin Dokumente, die belegen, dass „der einstige Fernseh-Dramaturg von DDR-TV-„Polizeiruf 110“-Folgen, Hans-Jürgen Faschina auch als Stasi-IM ‘Erich Engel’ tätig war und über sie berichtet hatte. Empört zeigte sich Frau Thiemann im Jahr 2017, „das die Identifizierung des Spitzels über zwanzig Jahre gedauert hat“.
Eines ihrer vielen Hobbys war das Malen. Ihren lebensbejahenden und farbenfrohen, kreativen Bildern sieht man an, dass all die schlimmen Erlebnisse und Erfahrungen aus der DDR-Zeit ihre Seele nicht zerstören konnten. Dass das SED-Regime untergegangen ist, erzwungen durch mutige Menschen in Ostdeutschland, die die Friedliche Revolution einleiteten, bezeichnete sie immer „als großes Glück“. Die seit der Wiedervereinigung förmlich wieder aufgeblühten, sanierten Städte, darunter vor allem auch ihre Geburtsstadt Dresden, besuchte sie besonders gerne. Sie hatte eigentlich noch so viel vor, wie sie im letzten Telefonat im April 2018 sagte. Ein neues Buch war in Arbeit und auch eine Vernissage der neuen Gemälde.